Selma Stern-Täubler

Grenzgängerin zwischen Wissenschaft und Literatur

Am 24. Juli 2010, anlässlich des 120. Geburtstages von Selma Stern-Täubler (1890-1981), wurde an ihrem Geburtshaus in der Kippenheimer Oberen Hauptstraße 27 eine Gedenktafel eingeweiht. In ihrer Heimat war die im amerikanischen Exil lebende Geschichtsschreibern in Vergessenheit geraten – ein Schicksal, welches sie mit vielen der in der Zeit des Nationalsozialismus emigrierten Kunstschaffenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern teilt. Erst seit den 1990er Jahren ist das Interesse an ihren Forschungen in Deutschland erwacht – ein besonderes Verdienst dabei hat Marina Sassenberg, Autor mehrerer biografischer Arbeiten zu Selma Stern.

Selma Stern wurde 1890 als zweitältestes von vier Kindern geboren. Der Vater Julius Stern (1861–1908) aus Malsch bei Baden-Baden hatte sich 1886 in Kippenheim als praktischer Arzt niedergelassen; ihre Mutter Emilie Durlacher (1865–1931) stammte aus einer alteingesessenen Kippenheimer Familie, die durch Kleider- und Weinhandel zu Wohlstand gekommen war. Die Sterns gehörten dem Bildungsbürgertum an und waren ein typisches Beispiel einer assimilierten deutsch-jüdischen Familie, deren Lebensweise sich von alten jüdischen Traditionen gelöst hatte. 1900 entschloss sich die Familie nach Baden-Baden umzuziehen, um den Töchtern Selma und Margarethe eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Vermutlich war hier Julius Stern die treibende Kraft. Dem Vater, dessen unerwarteter Tod im Jahr 1908 die 18-Jährige nur schwer verwandt, verdankte Selma Stern auch ihr Interesse an Schöngeistigem, an Geschichte und Literatur. Die Beziehung zu Kippenheim hielt Selma Stern aufrecht.

In Baden-Baden besuchte Selma Stern das dortige Humanistische Gymnasium, wo schon ihr Vater sein Abitur absolviert hatte. Sie war das erste und das einzige Mädchen an dieser Schule. Auch ihr Studium der Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg war keine Selbstverständlichkeit, denn die Universitäten hatten gerade erst begonnen, sich auch für Frauen zu öffnen. Sterns um 1919 entstandene Promotionsschrift über den rheinischen Adeligen und Revolutionär Anarchis Cloots ist ihr erstes Werk in einer Reihe biografi - scher Arbeiten. Sie interessierte sich besonders für das Zwiespältige und Brüchige der Portraitierten. Als Frau war sie in der bislang von Männern dominierten Geschichtsforschung selbst eine Außenseiterin. Ihrem Tagebuch hatte die Studentin 1914 ihre Hoffnungen und Lebensziele anvertraut: „Die Frau von heute soll ein anderes Ideal haben als Männer nachahmen. Sie soll sich auch bewusst sein, dass sie selbst eine Kraft ist, die auf ihrem Gebiete Großes leisten kann! Ich träume von einer Verbindung zwischen Wissenschaft und Literatur, Belletristik und Philosophie, Wissenschaft und Leben!“ Doch ihre Träume kollidierten mit der Realität; der Versuch einer Habilitation scheiterte „am Unverständnis und Unwillen einer männlichen Professorenschaft“ (Marina Sassenberg). Der Historiker Eugen Täubler (1879–1953), der das Potenzial von Selma Stern erkannte, holte sie 1918 in die von ihm geleitete Berliner „Akademie für die Wissenschaft des Judentums“. Hier fand sie die Vielseitigkeit, die ihr vorschwebte. Auf Anregung Täublers begann sie 1920 mit den Forschungen zu ihrem großen vierbändigen Werk „Der preußische Staat und die Juden“. Fünf Jahre später veröffentlichte der Schocken-Verlag den ersten Preußenband. 1927 heirateten Selma Stern und Eugen Täubler.

Angesichts der zunehmenden Judenfeindschaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik – der Selma Stern-Täubler nach eigenem Bekunden persönlich nie begegnete – rückte das komplexe Verhältnis zwischen den deutschen Juden und der christlichen Mehrheitsgesellschaft in den Mittelpunkt ihres Interesses. Ihr 1929 erschienenes Buch über den jüdischen Hoffaktor Joseph Oppenheimer (Jud Süss) berührte neben dem Biografischen einen weiteren Schwerpunkt ihres Schaffens: die Welt der jüdischen Hoffaktoren an den deutschen Fürstenhöfen, die sie in ihrem 1950 zuerst auf Englisch (The Court Jew) und erst 2001 in deutscher Sprache erschienenen Buch „Der Hofjude in der Zeit des Absolutismus“ behandelte.

Die öffentliche Verbrennung ihres Buches „Jud Süß“ 1933 markiert das Ende ihrer wissenschaftlichen Karriere in Deutschland. Durch Vermittlung des Präsidenten der „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ Leo Baeck (1873–1956), mit dem das Ehepaar Stern-Täubler eine lebenslange Freundschaft verband, konnte 1938 der zweite Preußenband gedruckt werden. Allerdings wurde die gesamte Auflage vor ihrer Auslieferung beschlagnahmt. Das Manuskript konnte gerettet werden. Als sich nach Kriegsende das ganze Ausmaß des massenhaften Judenmords offenbarte, brach in Selma Stern-Täubler eine Welt zusammen. „In mir ist Dunkelheit“, schrieb sie in ihr Tagebuch. In dieser Zeit der Krise wurde ihr die Literatur zur Mittlerin zwischen dem Unsagbaren und dem Drang nach Darstellung des Geschehenen. In den Jahren 1942 bis 1944 verfasste sie einen Novellenkranz über das Leben einer jüdischen Familie in der Zeit der Pestverfolgungen im 14. Jahrhundert. Schauplatz des 1946 auf Englisch und 1972 in Deutsch erschienenen Buches „Ihr seid meine Zeugen“ sind Süddeutschland und das Elsass. „Juda“, eine der Hauptpersonen, zählt zu ihren Vorfahren.

Von 1947 bis zu ihrer Pensionierung 1957 leitete Selma Stern-Täubler das „American Jewish Archive“ am Hebrew Union College in Cincinnati/Ohio. 1953 veröffentlichte sie die Biografi e des Josel von Rosheim, dem „Befehlshaber der deutschen Juden“ in der Zeit der Reformation. Nach dem Tod ihres Mannes 1953 und ihrer Pensionierung begann sie sich mit einer Rückkehr nach Europa auseinanderzusetzen. 1960 zog sie nach Basel in die Nähe ihrer Schwester Margarete Stern-Horowitz. Dort vollendete sie ihr wissenschaftliches Werk: Zwischen 1962 und 1975 erschien die komplette vierbändige Ausgabe ihres Hauptwerkes „Der preußische Staat und die Juden“. Ihre letzten Jahre verlebte sie in einem Altenheim in Basel-Riehen, wo die Historikerin der deutsch-jüdischen Geschichte 1981 im Alter von 91 Jahren verstarb.

 

Jürgen Stude

Literatur

Dick, Jutta/Marina Sassenberg (Hrsg.): Jüdische Frauen im 19 und 20 Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Reinbek bei Hamburg 1993

Sassenberg, Marina: Apropos Selma Stern, Frankfurt a. M. 1998

Sassenberg, Marina: Selma Stern und The Court Jew. Bemerkungen zur deutschen Erstveröffentlichung. In: Stern, Selma: Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus: ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert, kommentiert und hrsg. von Marina Sassenberg, Tübingen 2001

Sassenberg, Marina: Selma Stern (1890-1981): Das Eigene in der Geschichte. Selbstentwürfe und Geschichtsentwürfe einer Historikerin, Tübingen 2004

Stern, Selma: Josel von Rosheim, Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Stuttgart 1959

Stern, Selma: Ihr seid meine Zeugen. Ein Novellenkranz aus der Zeit des Schwarzen Todes 1348/49. München 1972

Stern, Selma: Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus: ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert, kommentiert u. hrsg. v. Marina Sassenberg. "Tübingen 2001

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