In gewisser Weise darf auch Moritz Meier als ein Ortenauer Jude gelten, obwohl er nur Kindheit und Jugendzeit hier verbracht hat. 1893 wurde er als Sohn des Handelsmannes Max Meier (1863–1924) und der Hausfrau Jeanette Meier, geb. Baum (1871–1899) in Nonnenweier geboren.
Max Meier wollte wie sein Vater Viehhandel betreiben. 1914 wurde er mit 21 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen. Nach dem Krieg ließ er sich in Grießen, einem kleinen Dorf im Klettgau am Hochrhein, als Landwirt und Viehhändler nieder. 1923 heiratete er Martha Abraham aus Rust (1904–1942 Auschwitz). Die Dorfmusik von Grießen begrüßte das Braut paar mit einem Ständchen. Im Jahr darauf kam Sohn Ernst (1924–1942 Auschwitz) zur Welt, den Martha bei ihren Eltern in Rust entband. 1926 siedelte die junge Familie von Grießen nach Tiengen um. Hier kaufte Moritz Meier einen respektablen Bauernhof. 1927 erblickte Töchterlein Ilse Jeanette (1927–1942 Auschwitz) das Licht der Welt.
Martha Meier gründete in Tiengen einen kleinen Synagogenchor. Das Verhältnis von Juden und Nichtjuden war damals nach Meiers eigenen Worten recht entspannt. Die Juden hätten an christlichen Feiertagen ihre Häuser geschmückt und umgekehrt hätten die Christen zum Laubhüttenfest ihre Gebäude geziert. Dies sollte sich mit Beginn der Naziherrschaft schlagartig ändern.
Als Moritz Meier im Frühjahr 1933 die Milch von seinen 19 Milchkühen zur Milchzentrale bringen wollte, wurde ihm dort die Abnahme verweigert. Unterhalb der Wiese seines Hofes richteten die Nazis einen Schießplatz ein, auf dessen Zielscheiben sie Karikaturen von Tiengener Juden in Lebensgröße anbrachten. Als einige Zeit später die dritte Klasse der Volksschule einen Schulausflug machte, wurde Sohn Ernst als jüdisches Kind ausgeschlossen.
Moritz hatte sich im Krieg mit Albert Leo Schlageter (1894–1923) angefreundet und auch nach dem Ersten Weltkrieg mit ihm korrespondiert. Schlageter, der von den Nazis als Held verehrt wurde, hatte 1923 gegen die Franzosen bei ihrer Besetzung des Ruhrgebiets Sabotageakte verübt und war deswegen von ihnen hingerichtet worden. Die Tiengener NS-Anhänger verlangten von Meier bei einem ungebetenen Hausbesuch die Herausgabe der Fotos und Briefe von Schlageter. Meier kam diesem Verlangen nur teilweise nach. Als die Nazis ein zweites Mal aufkreuzen wollten, wurde er von einem Mitwisser gewarnt. Er floh Hals über Kopf in die benachbarte Schweiz zu seiner Schwägerin Selma Rotschild in Zürich. Seine Familie ließ er in den folgenden Tagen nachkommen.
Der Arzt Dr. Jos. Weill, ein Verwandter aus Straßburg, kaufte für Moritz, seine Familie und Verwandte das ehemalige Klostergut Ste Radegonde im Loiretal bei Angers. Insgesamt übernahmen 18 Personen unter Leitung von Moritz Meier die Bewirtschaftung der dazugehörigen Ländereien. Als 1939 die Gefahr eines deutschen Überfalls auf Frankreich drohte, meldete sich Moritz zum französischen Militär. Er wurde jedoch zu seinem Befremden als „feindlicher Ausländer“ festgenommen und interniert. Nach mehreren Stationen brachte man ihn 1940 in das Lager Gurs, wo er auf Bekannte aus Tiengen stieß.
Nach einer Erkrankung durfte Moritz Meier außerhalb des Lagers wohnen und Gemüse anbauen. Die französische Verwaltung akzeptierte seine Begründung, als Landwirt wolle er einen Beitrag zur Ernährung der französischen Bevölkerung leisten. Er hoffte, da er nun auf eigenen wirtschaftlichen Füßen stand, seine Familie aus Ste Radegonde holen zu können. Doch vergeblich, am 15. Juli 1942 wurden seine Frau und die beiden Kinder aus Ste Radegonde deportiert und anschließend in Auschwitz ermordet. Als die französische Polizei im Herbst 1942 auf Veranlassung Deutschlands Jagd auf Juden machte, floh er auf abenteuerliche Weise in die Schweiz. Schmerzliche Gewissheit über das Schicksal seiner Familie erhielt Moritz Meier durch Nachforschungen erst nach dem Krieg. Das „Schuldgefühl des eigenen Überlebens“ sollte ihn zeitlebens nicht verlassen.
Seine Erinnerungen an die Zeit in Gurs fasste Meier in einem Buch zusammen, das 1946 ein Schweizer Verlag unter dem Titel „Briefe an meinen Sohn“ herausbrachte. Mit dem Honorar bezahlte er die Überfahrt in die USA zu seiner Schwester Senta Wolf (geb. 1902). Dort verdiente er sich seinen Unterhalt zunächst als Maschinenstricker und danach mit der Anfertigung orthopädischer Schuheinlagen. Durch Wiedergutmachungsleistungen besserte sich seine Situation. Er heiratete 1950 Gretel Guggenheim (geb. 1905), eine Verwandte seiner ersten Frau. Wegen seiner extremen Schwerhörigkeit, die er auf eine in Gurs erlittene Entzündung zurückführte, war ihm die Frau eine wichtige Begleiterin. 1962 veröffentlichte Moritz Meier seine Erinnerungen an die Zeit nach dem Krieg unter dem Titel „Refuge“. Er starb 1995 im Alter von über 100 Jahren.
Dieter Petri
Literatur:
Künzel, Peter: St. Radegonde. Konstanz 2008
Meier, Maurice: Briefe an meinen Sohn. Neuauflage mit Ergänzungen von Robert Krais. Ettenheim 2000