Der 1867 in Kippenheim geborene Albert Weill ist ein vergessener jüdischer Kantor und Komponist. In der einschlägigen Musikliteratur findet er als „der Vater des berühmten Komponisten Kurt Weill“ Erwähnung. Albert Weill stand stets im Schatten seines berühmten Sohnes Kurt, die meisten Informationen über Albert stammen aus der biografischen Perspektive zu Kurt Weill. Der Freiburger Historiker Uwe Schellinger hat mit seinen 2000 und 2003 verfassten biografischen Skizzen den Blick auf Albert Weill frei von dieser Fixierung geöffnet.
Als Albert Weill am 2. Januar 1867 in Kippenheim als fünftes Kind des jüdischen Eisenwarenhändlers Nathan Weill (1828–1894) und dessen Frau Jeanette, geb. Hochstetter (1831–1881) geboren wird, konnte die Familie Weill auf eine 150-jährige Präsenz in dieser jüdischen Landgemeinde zurückblicken. Manche Mitglieder der Familie Weill hatten religiöse Funktionen, wie die des Mohels (Beschneider) oder des Toraschreibers, inne. Das kulturelle und religiöse Milieu der Kippenheimer Juden hat den jungen Albert stark geprägt, er wurde nicht wie sein Vater Eisenwarenhändler, sondern entschloss sich, eine Ausbildung zum Kantor und Religionslehrer zu absolvieren. Im Jahre 1889 trat er mit 21 Jahren seine erste Stelle als Religionslehrer in Ettlingen an, 1891 wechselte er nach Kirchen bei Lörrach. Um sein Gehalt aufzubessern, war er dort zusätzlich als Kantor tätig. Beide Ämter übte er auch zwischen 1893 und 1898 in der jüdischen Gemeinde Eichstetten am Kaiserstuhl aus. In dieser Zeit veröffentlichte er eigene Kompositionen wie die „Synagogengesänge für Cantor und Männerchor“ (1893). Diese 18-seitige Partitur enthält eine Vertonung mehrerer Psalmentexte und biblischer Verse.
Am 8. März 1897 heiratete Albert Weill die aus einer badischen Rabbinerfamilie stammende Emma Ackermann (1872–1955). In Eichstetten kam 1898 Nathan (1898–1957), der erste Sohn des Ehepaares, zur Welt. Im gleichen Jahr verließ der 31-jährige Albert Weill mit seiner Familie Eichstetten und übernahm die Kantorenstelle in Dessau, dessen jüdische Gemeinde als eine der reformfreudigsten in Deutschland galt. Hier kamen in kurzen Abständen die weiteren Söhne der Familie Weill zur Welt: 1899 Hans Jakob (1899–1947), 1900 der später berühmt gewordene Kurt (1900–1950) und 1901 die Tochter Ruth (1901–1972).
In orthodoxen jüdischen Gemeinden gab es Ende 1900 keine Orgeln oder Männerchöre; liturgische Gesänge waren allein Sache des Kantors. Es gab aber auch Reformgemeinden, die ihre synagogale Liturgie modernisieren wollten. Diese in der Regel städtisch geprägten Gemeinden führten den Chorgesang in ihre Gottesdienste ein, schafften sich eine Orgel oder ein Harmonium an. In der liberalen Dessauer Gemeinde mit ihren über 600 Mitgliedern saßen Männer und Frauen im gleichen Gottesdienstraum, es gab eine Orgel und einen gemischten Chor. Weill stellte seine neuen Kompositionen, z. B. eine Vertonung des Aaronitischen Segens, auf die Dessauer Gegebenheiten um. Die Motette wurde für gemischten Chor, Tenorsolo und Orgel arrangiert, was darauf hinweist, dass der ursprünglich orthodox ausgerichtete Weill sich dem Reformgedanken geöffnet hatte. Alberts Weills Kompositionen wurde 1999 aufgenommen (Chor der pädagogischen Hochschule Freiburg) und liegen seitdem als CD vor. Früh förderte Albert Weill die musikalische Ausbildung seines Sohnes Kurt, der sich bereits im Alter von zwölf Jahren an kleinen Kompositionen versuchte.
Im Mai 1920 zog die Familie Weill nach Leipzig. Hier stellte sich dem nun 50-Jährigen eine vollkommen neue berufliche Herausforderung: Er wurde Leiter eines jüdischen Kinderheims. Weill war für ca. 30 Kinder verantwortlich, seine Frau Emma für die Hauswirtschaft. Sohn Kurt, der sich von seinem Vater zunehmend entfremdete, ging nach Berlin, studierte dort und heiratete 1926 die unter dem Künstlernamen Lotte Leyna (1898– 1981) bekannte Sängerin und Tänzerin Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer.
Die Machtergreifung der Nazis brachte eine grundlegende Veränderung im Leben der Weills: Im März 1933 fl oh Kurt Weill aus Angst vor einer Verhaftung nach Frankreich, 1934 wanderte der zweite Sohn Hans in die USA aus. 1935 emigrierten der 68-jährige Albert Weill, seine Frau Emma und der älteste Sohn Nathan und dessen Familie mit der „Fünften Alija“ (Auswanderungswelle) nach Palästina und ließen sich zuerst in Jerusalem und 1937 in Nahariya nieder, wo ihr Sohn Nathan Weill als Arzt arbeitete. Das 1934 von deutschen Neusiedlern gegründete Nahariya galt als „Stadt der Jeckes“ – als „Jeckes“ bezeichnete man nach Palästina ausgewanderte deutsche Juden. Der Ort lag in einem sumpfigen Flusstal und war landwirtschaftlich geprägt. Der Umgang mit Hacke und Spaten fi el den vielen dorthin emigrierten deutschen Ärzten, Rechtsanwälten und Kaufleuten nicht leicht. Auch den Weills bereitete die Existenzsicherung in den ersten Jahren große Schwierigkeiten. Erst als Nathan Weill sich einen guten Ruf als Arzt erworben hatte, ging es aufwärts. 1943 widmete Sohn Kurt seinem Vater Albert Weill das vierstimmige Chorstück „Kiddush“, eines der wenigen religiösen Stücke des Komponisten.
Der Konflikt um Palästina und die folgenden erbitterten militärischen Auseinandersetzungen machten Nahariya zu einem gefährlichen Brennpunkt für die dort lebenden Juden; nach dem UN-Teilungsbeschluss von 1947 gehörte die Stadt zum arabischen Teil Palästinas. Erst der israelische Sieg im Unabhängigkeitskrieg von 1948 brachte mehr Sicherheit auch für die Weills. Nachdem 1947 ihr Sohn Hans in den USA verstorben war, traf Kurt und Emma Weill ein erneuter Schicksalsschlag: Im April 1950 erreichte sie die Nachricht vom plötzlichen Tod ihres Sohnes Kurt. Wenige Monate später verstarb im Dezember Albert Weill mit 83 Jahren; er wurde auf dem Friedhof von Nahariya bestattet.
Bernd Rottenecker
Literatur
Schebera, Jürgen: Kurt Weil. Mainz 2016
Schellinger, Uwe: Albert Weill (1867 - 1950) aus Kippenheim : eine biographische Spurensuche nach dem Vater von Kurt Weill. In: Geroldsecker Land 42 (2000), S. 161-178
Schellinger, Uwe: Kantor Albert Weill und sein Lebensweg von Südbaden nach Israel. In: Dessauer Kalender, Bd. 46, 2002 und S. 58(6?)-69 und Bd. 2003. 47, S. 38-51